Die Weigle/Berner-Orgel
in der Matthäuskirche Stuttgart
Die erste größere Orgel in der Matthäuskirche wurde 1896 von der Firma Weigle (op.187) errichtet. Sie hatte pneumatische Traktur, 27 Registern, zwei Manuale (C-f³) und Pedal (C-d1) und wurde auf der Süd/West-Empore aufgestellt.
Die Disposition bestand - der Zeit entsprechend - aus vielen Grundstimmen, wenig Obertonregistern, um einen grundtonbasierenden romantischen Klang zu erzeugen.
1943 wurde die Orgel nach schwerer Beschädigung durch Luftangriffe abgetragen und in Sicherheit gebracht.
Nach Kriegsende musste die Gemeinde vorerst mit einem Positiv vorlieb nehmen, welches im Altarbereich aufgestellt wurde und 6 Register hatte.
Das Positiv wurde 1952 einer 3-manualigen elektropneumatischen Orgel (Weigle op.906) einverleibt, die wiederum auf der Süd-/Westempore mit freistehendem Prospekt aufgestellt wurde und 24 Register hatte - davon 4 Register der im Krieg abgetragenen Orgel von 1896, die selbst im heutigen Instrument noch erklingen (Prinzipal 16', Subbass 16', Bourdon 16', Flöte 8' [ehemals Doppelflöte 8']).
Die Disposition trägt deutlich die Einflüsse der Orgelbewegung der Nachkriegszeit.
1966 brach die Firma Weigle die gesamte Orgel ab und brachte sie, um einen weiteren Ausbau vorzunehmen, in die Werkstatt. Am 5.11.1967 wurde die unter der Leitung von Prof. Herbert Liedecke auf 49 klingende Stimmen erweiterte Orgel eingeweiht. Das Instrument bekam vollelektrisch gesteuerte Schleifladen.
Der alte Pfeifenbestand wurde im Wesentlichen beibehalten. Das Hauptwerk war in seiner Disposition kompakt, das Schwellwerk verhältnismäßig groß angelegt. Im Positiv und Schwellwerk war eine Palette aus romantischen, französischen, barocken und zeitentsprechend modernen Klangfarben entstanden. Der Klanggestalt dieser Orgel lag die Idee zugrunde, Klangschönheit und Volumen aus verschiedenen Stilepochen in einem neuzeitlichen Werk zu vereinen.
Zum 100-jährigen Kirchenjubiläum 1981 wurden weitere bauliche Veränderungen vorgenommen. Die Pflege der Orgel oblag von 1975-1998 Orgelbaumeister Diethelm Berner.
Der neue Eisenschmid-Spieltisch verfügt nun über eine Setzeranlage mit 32 Kombinationen. Tutti und Walze arbeiten unabhängig vom Setzer, was bei evtl. Ausfällen hilfreich ist. Die Registerwippen sind alle auf der linken Seite übersichtlich angeordnet, hier kann ein Registrant bequem alle Register bedienen, und auch blinde Gastorganisten finden sich zurecht. Die Kontakte der Tasten schalten nur einen Steuerstrom, nicht die gesamte Stromstärke für die Tonventilmagnete wie beim alten Spieltisch, was eine längere Lebensdauer garantiert. Zudem wurde der neue Spieltisch mit einem modernen Radialpedal versehen.
Diethelm Berner veränderte den Klang ein weiteres Mal maßgeblich. Die Intonation der Pfeifen war durch die lange Nachhallzeit im Raum schwierig. So wurden zum besseren Hören der Musik ca. 500 qm Schallschluckmaterial an den Wänden eingebaut und Sitzkissen für die Kirchenbänke im Schiff angeschafft – letztere als Spende der Familie Stierle an die Gemeinde.
Die Neuerungen zur Erweiterung der Klangpalette waren folgende:
Im Hauptwerk wurde u.a. ein zusätzlicher schwacher 16‘ und ein neues Cornett (direkt hinter dem Prospekt) eingebaut. Eine Gambe, die ehemalige Flûte major, erhielt ab c' doppelte Länge mit Überblasloch und Rundaufschnitt und strahlt nun das Pariser Flair einer echten Flûte harmonique 8' aus. Positiv und Schwellwerk wurden unter romantischen Gesichtspunkten weiter ergänzt: Fugara 8', Voix céleste, Batterie d'anches, aber auch Aliquotstimmen waren vertreten. Im Pedal wurde u.a. ein labialer 32' angeschafft.
So ermöglichte es die Nachintonation durch helle, geschärfte Aliquotstimmen, aber auch romantisch weiche Streichregister noch mehr Klangvorstellungen von Orgelmusik zu realisieren: das Spiel barocker und frühklassischer Literatur, ebenso aber auch französischer und deutscher symphonischer Romantik.
1996 kamen die Horizontaltrompeten 8‘ und 4‘ hinzu, im II. Manual und per Transmission auch im Pedal spielbar. Diese auch „Chamades“ genannten spanischen Trompeten mit ihrer signalhaften Wirkung finden sich in der spanischen Orgelliteratur. Es folgten einige weitere Verfeinerungen und den Gesamtklang ergänzende neue Register.
2001 wurde ausgereinigt, nachintoniert, die technische Anlage überholt und ein neues Setzer-System mit 4096 Kombinationen sowie Sequenzer installiert. Orgelbaumeister Michael Mauch hatte in der Zwischenzeit die Pflege des Instrumentes übernommen. Im Jahr 2009 wurde ein zweites großes Orgelgebläse eingebaut.
Die Innenrenovierung des Kirchenraums 2010/11 brachte die Öffnung der Kuppel unter der Vierung und die Instandsetzung des ursprünglichen Terrazzo-Bodens im Kirchenschiff. Dadurch entwickelte der Raum eine Kathedraleakustik mit 4-5 Sekunden Nachhall. Wiederum helfen Schallschluckelemente, und Teppiche ermöglichen eine Flexibilität in der Handhabung der Akustik, die für Musizierende sowie Hörer eine Herausforderung bleibt.
Manuale C-g'", Ped C-f' elektrische Spiel- und Registertraktur, Setzer mit 4096 Kombinationen.
Mit einem gewissen Recht darf man sagen, dass die äußerlich unscheinbare Matthäusorgel zu einem klangschönen Instrument mit einem ihr eigenen sympathischen, edlen Klangcharakter herangewachsen ist. Der Intonateur hat sich erfolgreich bemüht, die verschiedenen Klangelemente zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen.
Das leiseste Pianissimo (mit geschlossenem Jalousieschweller) ist auch im Chorraum deutlich zu hören, das majestätische Tutti ist kräftig, aber nicht erdrückend. Die Labialstimmen werden auch polyphonem Liniengeflecht gerecht; die Mixturen sind glanzvoll erfrischend, aber nicht aufdringlich, die Flöten anmutig, die Streicher schön und mischfähig (besonders auch die Schwebestimme), die Aliquotstimmen kantabel, charakteristisch und doch gut verschmelzend bis hinauf zum 7., 9. und 11. Oberton, die vielfältigen Zungen prachtvoll und differenziert. Die Bässe reichen hinab bis zur unteren Hörgrenze und sprechen auch dort präzise an; sie sind das tragfähige Fundament für die gewaltige, aber ausgewogene Klangmasse.
Viele Hörer und Spieler haben Freude an diesem Instrument.
Zwar war es der Matthäusgemeinde nicht vergönnt, ein neues gesamtes Instrument aus einem Guss zu bekommen, jedoch hatte die "peu-à-peu-Erweiterung" im Gegensatz zu einem Neubau den Vorteil, dass sich die Klangvorstellung und das Klangideal entwickeln und reifen konnte. Durch das immer wieder Hineinhören eines Registers im Lauf der Zeit konnten Klänge viel spezifischer aufeinander abgestimmt werden.
Eine durchschlagende Zunge hat sich noch nicht bis zur Matthäusorgel "durchgeschlagen", einige alte Blechpfeifen könnten hier und dort noch erneuert werden.
Wünschenswert wäre eine mechanische Traktur, was der Gesmatkonzeption und dem jetzigen Werkaufbau nicht wirdersprechen würde. Jedoch lassen die finanziellen Mittel noch auf sich warten.
Der Orgelförderverein wurde gegründet, um u.a. derartige Dinge in Angriff zu nehmen.
Dank dem unermüdlichen Einsatz von Idealismus, Spenden, Nachintonieren, Umbauen, Erweitern, Überwinden von Widerstand und nicht zuletzt durch die "lächelnde Bettlerin" konnte das heutige Instrument entstehen; andernfalls wäre der Gemeinde die Finanzierung eines Neubaus aufgrund von Veralterung und Verschleiß nicht erspart geblieben.
So wäre der gutgemeinte Rat eines inzwischen verstorbenen Orgelbaufreundes wohl doch widerlegt; er schrieb dem Organisten 1974 in einem launigen Brief:
„Warum wollen Sie denn noch immer Geld in den Orgelschrott des Heiligen Matthäus stecken ? Das ist doch ein dem schwäbischen Sparsinn diametral entgegenlaufendes Verfahren. Denn in spätestens 5 Jahren fängt der Spieltisch an, seinen Geist aufzugeben [was stimmte!], in 10 Jahren fangen die primitiven Laden an [die 1981 durch Schleifladen ersetzt wurden und in 15 Jahren ist der Neubau fällig. Eigentlich wäre er dies schon längst. Aber natürlich kann man auf zerrissene Jeans auch so lange andere Flicken aufnähen, bis daraus eine ‚moderne' Hose wird. [...]
Mein letztes Wort zum Thema: Warmer Abbruch!"
Orgelmacher W. E. Renkewitz